8 Digitalisierung
Abbildung 3: Der Blick durch die VR-Brille zeigt Qualitätsparameter
am geformten Teil ©Fraunhofer IVV
ten Arbeitsaufgaben des Bedienenden ausgerichtet und definiert verschiedene
modulare Lernbausteine. So können beispielsweise Kompetenzen
für generelles Prozessverständnis, Prozessmonitoring, Störungsdiagnose
und -beseitigung sowie Reinigungstätigkeiten vermittelt werden.
Für das Prozessmodell werden die Zusammenhänge des Prozesses
ermittelt, gewichtet und digital modelliert. Die Modellierung kann, je
nach Schulungsziel, sowohl qualitativ (z. B. größerer Vorstreckstempelweg
führt zu größerer Wanddicke am Becherboden) als auch quantitativ
erfolgen. Großer Wert wird dabei auf die Betrachtung des Gesamtsystems
gelegt, welches die Berücksichtigung nicht nur der Eigenschaften
von Produkt, Verpackung und Maschine bzw. Prozess, sondern auch
von Umgebungsbedingungen wie bspw. den klimatischen Gegebenheiten
in der Produktionshalle erfordert. Erfasst werden diese Zusammenhänge
durch Interviews mit ExpertInnen und Erfahrungstragenden aus
der Produktion sowie durch die Abbildung von generellem Wissen zu
den zu vermittelnden Verarbeitungsprozessen. Die Erstellung des dreidimensionalen
VR-Modells wird durch die Verfügbarkeit der CAD-Daten
der Maschine erleichtert. Bedenken der Maschinenhersteller hinsichtlich
der Bereitstellung dieser Daten sind unbegründet, da der Detailgrad der
Modelle deutlich geringer ist, als für die Konstruktion und Fertigung
der Maschine benötigt wird. Geheimhaltungsrelevante Bauteile können
zudem entfernt und durch eigens modellierte Teile ersetzt werden. Ein
Beispiel hierfür ist die Formschulter in folienverarbeitenden Maschinen,
deren detailgenaue Darstellung in der VR-Umgebung nicht relevant ist.
Vermittlung von Prozesswissen
zum Thermoformprozess
In einem Pilotprojekt setzte das Fraunhofer IVV eine VR-Schulung zur Vermittlung
des Prozessverständnisses im Thermoformprozess um. Als Versuchsträger
diente der Thermoformversuchsstand des Instituts, welcher
im Institutsalltag zur Erprobung neuer Heiz- und Formtechnologien sowie
der Untersuchung des Verarbeitungsverhaltens neuer Materialien dient.
Einer der wichtigsten Qualitätsparameter beim Thermoformen
ist die Wanddickenverteilung. Wohlwissend, dass dieses Zielkriterium
durch deutlich mehr Einstellparameter beeinflusst wird, wurden
gemeinsam mit Prozessexperten für das initiale Vorhaben die Parameter
Abbildung 4: Mit dem Blick durch die VR-Brille ist das
freie Erproben von Parameterveränderungen möglich
©Fraunhofer IVV
Stempelweg, Stempelgeschwindigkeit und Heiztemperatur ausgewählt
und in einem Schulungsszenario für die Oculus Quest 2 umgesetzt. Im
Szenario tritt der zu schulende Bedienende in der virtuellen Umgebung
zunächst vor das HMI des Versuchsstandes und bekommt durch Einblendungen
in Textform die Interaktionsmöglichkeiten mit dem HMI
erläutert. Im Anschluss erhält er die Möglichkeit, den Prozessablauf an
beliebigen Stellen vor der Maschine zu verfolgen und dabei störende
Bauteile auszublenden oder in Schnittdarstellungen hervorzuheben.
Mit den initial im HMI eingestellten Betriebsparametern wird dann
ein Teil geformt, dessen Wandstärke am Boden zu gering ist und dessen
Seitenwand Falten aufweist. Dies wird durch eine stilisierte Darstellung
des Bechers an der linken virtuellen Hand des Bedienenden gezeigt,
grafisch hervorgehoben und mit Text erläutert (siehe Abbildung 3).
Der Bedienende hat nun die Möglichkeit, die drei Einstellparameter
in beliebiger Kombination über das virtuelle HMI zu variieren.
Die Auswirkung auf die Ausformung wird im nächsten Zyklus
visualisiert. Durch das freie Erproben kann der Einfluss jeder
Änderung nachvollziehbar dargestellt werden. Es können selbst
Parameteränderungen vorgenommen werden, die an der realen
Maschine zu Kollisionen von Bauteilen führen oder andere Schäden
hervorrufen würden. So kann durch das freie Erproben innerhalb
der Schulungsszenarien ein tiefgreifendes Prozessverständnis aufgebaut
werden.
Digitalisierungslösungen des Fraunhofer IVV bieten diverse
Vorteile für die Lebensmittelindustrie
flexibler Einsatz der Mitarbeitenden an verschiedenen Produktionslinien
kurzfristige Umplanung von Schichtplänen aufgrund Personalausfall
– insbesondere in der Corona-Pandemie ein relevantes Thema
schnelles Anlernen neuer Mitarbeitender ohne die Maschinen für
die Schulungszwecke aus dem Produktionsplan nehmen zu müssen
Nicht zuletzt: Digitalisierung und damit Erhalt des im Unternehmen
vorhandenen, zumeist aber nicht formalisierten Wissens
Weitere Informationen:
www.ivv.fraunhofer.de/de/verarbeitungsmaschinen/assistenzsysteme
Autoreninformation:
Dr. Lukas Oehm studierte an der Technischen Universität Dresden Maschinenbau und promovierte zum Fügen polymerer Packstoffe mit hochintensivem
fokussierten Ultraschall. Seit 2017 arbeitet er am Fraunhofer IVV in Dresden und leitet die Gruppe »Digitalisierung und Assistenzsysteme«.
/assistenzsysteme