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QUALITÄTSMANAGEMENT
über 100 °C betragen, das Lebensmittel
muss zumindest partiell ausgetrocknet
sein, der pH-Wert sollte im
Neutralbereich liegen, und es müssen
die freie Aminosäure Asparagin und
eine freie Carbonylgruppe vorhanden
sein 10; 11. Als Carbonylgruppe
fungieren dabei insbesondere die reduzierenden
Zucker wie Glukose und
Fruktose. Während bei Kartoffeln der
Gehalt an freiem Asparagin recht
hoch ist (bis zu 39 % an der Gesamtkonzentration
an freien Aminosäuren
12), überwiegen im Getreide die
reduzierenden Zucker. Somit sind bei
Kartoffeln die reduzierenden Zucker
das Zünglein an der Waage, während
bei Getreide diese Rolle das freie Asparagin
übernimmt 13; 14.
Auch bei Vorhandsein aller Begleitparameter
ist die Effizienz der
Acrylamidbildung innerhalb der
Maillard-Reaktion außerordentlich
gering. In Brotkruste wurde eine Umsetzungsrate
von weniger als 0,3 %
ermittelt, während in Kartoffeln und
Weizenmehl etwas höhere Werte (bis
zu 1 %) gefunden wurden 15. Leichte
Veränderungen im System können
zudem zu einer massiven Ab- oder
Zunahme der Bildungsrate führen,
wie das Beispiel der Lebkuchenherstellung
deutlich zeigt. Allein durch
Austausch des Backtriebmittels war
es dort möglich den Acrylamidgehalt
um 88 % zu senken 16. Des Weiteren
konnte in einem Versuch mit markiertem
Acrylamid gezeigt werden, dass
die jeweilige Acrylamidkonzentration
im Erzeugnis das Ergebnis miteinander
konkurrierender Bildungs- und
Abbaureaktionen ist 17. Auch ist die
jeweilige Lebensmittelmatrix für die
Bildungsintensität verantwortlich 10;
17-19. Neben dem Hauptbildungsweg
gibt es die Möglichkeit eines thermischen
Abbaus von Triacylglycerolen zu
Acrolein bei Temperaturen von über
200 °C. Die nachfolgende Oxidation
zu Acrylsäure führt dann in Gegenwart
einer Stickstoffquelle wie z.b.
Ammonium ebenfalls zu Acrylamid.
Exposition
Gewerblich hergestellte Lebensmittel
können auf ihren jeweiligen Acrylamidgehalt
hin untersucht werden.
Dieses erfolgt sowohl in den Lebensmittelunternehmen
selbst als
auch durch die staatliche Lebensmittelüberwachung.
Nicht bekannt
ist jedoch der Gehalt in den häuslich
zubereiteten Speisen. Somit sind
zwangsläufig alle Schätzungen einer
Acrylamidexposition mit einer gewissen
Unschärfe behaftet. Weiterhin
gibt es in den einzelnen Lebensmittelkategorien
(z.B. Kartoffelchips)
erhebliche Schwankungen, so dass
auch die Verzehrstudien, die mangels
konkreter Analysenergebnisse mit
mittleren Konzentrationen rechnen
müssen, eine Unschärfe der individuellen
Acrylamidbelastung ergeben.
In einer Zusammenstellung mehrerer
Einzelstudien durch die EFSA (Europäische
Lebensmittelbehörde) deutete
sich eine mittlere Tagesbelastung
von ca. 0,7 – 0,8 μg Acrylamid je
Kilogramm Körpergewicht an μg/kg
b.w./Tag 20. Die vorgenommene
Differenzierung nach Altersgruppen
zeigte, dass Kleinkinder und Kinder
im Durchschnitt mit 0,5 bis 1,9 μg/kg
b.w./Tag mehr Acrylamid aufnahmen
als Jugendliche und Erwachsene (0,4
bis 0,9 μg/kg b.w./Tag).
Bei Tabakkonsum muss zu den
Acrylamidwerten aus Lebensmitteln
noch eine mittlere Aufnahmerate von
1.700 ng je Zigarette hinzugerechnet
werden 21. Bei einem Tageskonsum
von 10 Zigaretten führt dieses zu einer
Erhöhung der Tagesbelastung an
Acrylamid bei einer Person mit einem
Körpergewicht von 60 kg um 0,3 μg/
kg b.w. /Tag.
Toxizität
Da Acrylamid bereits seit langem als
industrielle Chemikalie bekannt ist,
existieren zahlreiche toxikologische
Daten. In Tierversuchen wurden sowohl
neurologische, kanzerogene
als auch genotoxische Effekte beschrieben.
Da die neurologischen
Auswirkungen erst bei höheren Konzentrationen
auftreten, kommen für
den Bereich der durch Lebensmittel
vermittelten Exposition insbesondere
die kanzerogenen und genotoxischen
Auswirkungen in Frage.
Acrylamid wird rasch aufgenommen
und zum Teil auch wieder
über Urin ausgeschieden. Problematischer
für den genotoxischen Effekt
ist die Umwandlung von Acrylamid
in Glycidamid
durch das in der Leber
vorhandene Cytochrom P450 2E1 22;
23. Glycidamid seinerseits kann mit
Hämoglobin und Enzymen aber auch
mit DNA reagieren, so dass es zu
Punktmutationen und Krebs kommt.
Auch Glycidamid wird wieder ausgeschieden,
allerdings erst nach Umwandlung
zur Mercaptursäure 24.
Bei der Risikobewertung genotoxischer
Stoffe kann grundsätzlich
kein unterer Schwellenwert festgelegt
werden. Dadurch gibt es auch
bei sehr geringen Dosen immer ein
(minimales) Krebsrisiko. Von der EFSA
wird daher für Acrylamid das Margin
of Exposure-Konzept (MoE) empfohlen,
das den Abstand zwischen der
relevanten Exposition und der Referenzdosis
aus dem Tierversuch beschreibt.
Bei einem MoE von 10.000
und mehr geht die EFSA von einem
niedrigen Risiko aus. Dieser Wert ist
aber lediglich eine Zielgröße für einzuleitende
Maßnahmen. Grundsätzlich
sollte also die Exposition hier so
gering wie möglich sein (ALARA – as
low as reasonably achievable). Die
EFSA hat für Acrylamid MoE-Werte in
Abhängigkeit von der Altersgruppe
zusammengestellt. Die Werte lagen
zwischen 89 und 425 20 und geben
entsprechend Anlaß zur Sorge, da sie
deutlich unter dem Schwellenwert
von 10.000 liegen (im Vergleich zu
Acrylamid hat das Pilzgift Aflatoxin
einen Wert von 100.000 und die
Chemikalie Benzo(a)pyren sogar einen
Wert von 1.000.000).
Mittlerweile gibt es zahlreiche
Studien, die sich mit dem Krebsrisiko
von Acrylamid befassen. Die
Aussagen sind jedoch in ihrer Grundaussage
bis heute nicht einheitlich
25. Damit kann gegenwärtig ein
zusätzliches Krebsrisiko durch den
Verzehr von Acrylamid-belasteten
Lebensmitteln weder erwartet noch
ausgeschlossen werden. Umso mehr
greift das ALARA-Prinzip. Die EFSA
hat 2015 in einer Risikoabschätzung
noch einmal bestätigt, dass Acrylamid
möglicherweise das Krebsrisiko in allen
Altersgruppen erhöht.